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Was hat Marmelade mit dem Nationalsozialismus zu tun?

Auf den ersten Blick nichts, doch im Kontext des Arbeitserziehungslagers Reichenau sehr viel. Einige der dort Inhaftierten wurden nach dem ersten Bombenangriff im Dezember 1943 zu Aufräumarbeiten in Pradl beordert. In einem beschädigten Haus entdeckten die ausgehungerten Häftlinge Lebensmittel. Sie wurden dabei beobachtet, wie sie Brot und Marmelade verzehrten.

Dies wurde dem Lagerkommandanten gemeldet. Bei der abendlichen Durchsuchung im Lager wurde ein Glas Marmelade gefunden. Sieben Männer wurden daraufhin abgeführt, misshandelt und verhört.

Am Folgetag wurden sie wegen „Plünderung“ im Lager Reichenau gehängt.

Cyrill Schmutz (29 Jahre), Silvio Orsinger (20 J.), Juri Filipowitsch (17 J.), Peter Wetrow (18 J.), Leoni Silvam (31 J.), Giusep Di Patena (28 J.) und Iwan Semanatschenko (17 J.)

Wir tragen Verantwortung für unsere Geschichte, sowohl für jene der Täter als auch für jene der Opfer. Uns obliegt es, für eine Zukunft einzustehen, die von den Werten der Gerechtigkeit und Menschlichkeit geleitet wird.

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In Gedenken an Cyrill Schmutz (29 Jahre), Silvio Orsinger (20 Jahre), Juri Filipowitsch (17 Jahre), Peter Wetrow (18 Jahre), Leoni Silvam (31 Jahre), Giusep Di Patena (28 Jahre) und Iwan Semanatschenko (17 Jahre), die wegen „Plünderung“ am 16.12.1943 im Lager Reichenau gehängt wurden.

Der Luftangriff

Am 15.12.1943 dröhnten die viermotorigen Bomber der US-Luftwaffe über Innsbruck. Es war der erste Bombenangriff auf die Stadt. Er wird verheerende Wirkung haben. Innsbruck war schlecht vorbereitet. Es gab kaum Luftschutzbunker, die Luftabwehr war mangelhaft, die Geräte veraltet, als Luftwaffenhelfer dienten viele Schüler und Jugendliche und vor allem die Warnung an die Zivilbevölkerung kam viel zu spät. Der Historiker Horst Schreiber lässt in seinem Beitrag Innsbruck im Bombenkrieg einen 16jährigern Flakhelfer zu Wort kommen.

„Wie wir den ersten Schuss abgegeben haben, das haben wir nie geahnt […], das hat ein Feuer, das hat einen Krach gegeben. Wir sind durch das Schießen viel mehr erschrocken als durch die Flugzeuge, die drüber geflogen sind, von denen wir ja gewusst haben, dass sie Bomben geladen haben, und dass da ein Inferno losgehen kann. Mir hat’s gleich den Stahlhelm heruntergerissen und nach sechs Schuss ist die Mündungsbremse vorn gebrochen und unser Geschütz war kaputt. Die anderen haben inzwischen fleißig weitergeschossen […].“ (Schreiber 2002)

Die Bilanz des Angriffs war verheerend:

„269 Tote, 500 Verwundete, 1.627 Obdachlose, 45 Häuser total zerstört, 92 mittelschwer und 203 leicht beschädigt. Am Ärgsten in Mitleidenschaft gezogen wurden die Stadtteile Wilten mit 336 und die Innenstadt mit 127 Schadensfällen.“ (ebd.)
Für den Ausbau der Luftschutzeinrichtungen, für Aufräumarbeiten nach den Luftangriffen sowie für die Beseitigung von Blindgängern wurden hunderte Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und vor allem Häftlinge des Arbeitserziehungslagers Reichenau herangezogen. Ein ehemaliger Häftling des Lagers Reichenau berichtet, dass diese äußerst gefährliche Entschärfung bzw. Sprengung der Blindgänger unter den Insassen als „Himmelfahrtskommando“ bezeichnet wurde. Freiwillig meldete sich da niemand.

Was ist nun aber ein Arbeitserziehungslager (AEL)?

Im damals so genannten Deutschen Reich und den besetzten Gebieten gab es ca. 700 von dieser Art der Lager. Mehrere davon in Tirol. Der Autor Johannes Breit, der die erste Monographie über das Arbeitserziehungslager Reichenau geschrieben hat, gibt folgende Auskunft über den Sinn und Zweck dieser Lager.

„Betrieben von lokalen oder regionalen Polizei- bzw. Gestapo-Dienststellen, diente die AEL dem Zweck, Menschen – im Verlauf des Krieges vor allem Ausländer – , denen ‚Arbeitsunlust‘ oder ‚Arbeitsvertragsbruch‘ vorgeworfen wurde, zu bestrafen und zu disziplinieren – „durch Arbeit zur Arbeit zu erziehen“, wie Hitler schon Anfang der 1930er-Jahre den ideologischen Anspruch der Arbeitspolitik des Nationalsozialismus zusammengefasst hatte. (Breit 2017: 31)

Der Grund für diese „Arbeitsunlust“ oder den „Vertragsbruch“ war, dass viele ehemalige Vertragsarbeiter, vor allem aus Italien, nicht mehr im Deutschen Reich arbeiten wollten, da die Arbeitsbedingungen, die Bezahlung und die Verpflegung unzureichend waren und die Behandlung miserabel. Deshalb versuchten sie nach Italien zurückzukehren. Im Geiste des NS-Regimes bedeutete dies „ Arbeitsvertragsbruch, Arbeitsflucht und Sabotage“. Die Folgen waren Bestrafungen und Abschreckungsmaßnahmen und ab 1941 die Errichtung von sogenannten Arbeitserziehungslagern. Unter „Erziehung“ ist hier Disziplinierung und Einschüchterung durch „schwerste körperliche Arbeit und unter äußerster Brutalität“ (erinnern.at) zu verstehen. Hinzu kommt, dass die Verpflegung bei Weitem nicht ausreichend war, die Kleidung unzureichend und es kaum medizinische Versorgung gab. Der Lagerarzt von Reichenau sagte im Prozess 1948 aus, dass er von 1942 bis 1945 20 bis 34 Leichname untersucht hätte. In den meisten Fällen waren die Todesursachen Erfrierungen und Lungenentzündungen. Die Todeszahlen selbst müssen um einiges höher gewesen sein. (vgl. Breit 2017: 98)

Das Lager in der Reichenau

Errichtet wurde das Lager in Innsbruck in der zweiten Jahreshälfte 1941 – zunächst wurde das Landesarbeitsamt Alpenland mit einem „Auffanglager für Italiener“ (Breit 2017: 53) beauftragt. Anfang Jänner 1942 meldete der damalige Innsbrucker Gestapo Chef Adolf Hoffmann:

„In Innsbruck-Reichenau ist ein Arbeitserziehungslager errichtet worden, das der Staatspolizei Innsbruck untersteht und dazu bestimmt ist, die im Gau Tirol/ Vorarlberg wegen Arbeitsvertragsbruch, Blaumacherei oder Dienstpflichtverweigerung auffallenden, männlichen Personen aufzunehmen und durch strikte Disziplin und schwere Arbeit zu brauchbaren Volksgenossen zu machen.“ (Breit 2017: 54)

Neben den zivilen italienischen Arbeitern wurden später Zwangsarbeiter aus Osteuropa, Juden und Jüdinnen aus Nordafrika und Italien, politische Häftlinge sowie „Arbeitsunwillige“ aus Tirol interniert. Die meisten davon waren Männer, jedoch waren auch Frauen darunter.

Das komplexe Lagersystem bestand aus insgesamt 18 Baracken (acht für die Häftlinge, in den anderen waren Werkstätten, Küchen, Verwaltung untergebracht) und es war für ca. 800 Menschen konzipiert. Meist waren zwischen 400 und 500 Personen dort inhaftiert. Stacheldrahtzäune umfassten das Areal. In seinem vierjährigen Bestehen hatte es verschiedene Funktionen.

„Die Gestapo Innsbruck, das regionale Arbeitsamt, lokale Firmen etc. nutzten das Lager als Arbeitserziehungslager-, als Durchgangslager für deportierte Personen und als Auffanglager für italienische Arbeiter.“ (Breit 2017: 43)

Ab November 1942 war Werner Hilliges Gestapo Chef von Innsbruck und somit auch oberster Leiter des Arbeitserziehungslagers Reichenau. Lagerkommandant, zumindest bis Juli 1944, war SA-Hauptsturmführer und SS-Obersturmführer Georg Mott, anschließend übernahm SS-Untersturmführer Martin Schott diese Funktion. Zeugenaussagen beschreiben Mott und Hilliges als äußerst brutal bis sadistisch. Der Gestapo Leiter führte höchstpersönlich Ermordungen im Lager durch. Generell prägte Gewalt den Alltag im Lager. So schildert der ehemalige französische Häftling Jaques Gillet im Nachkriegsprozess 1948, der gegen die Lagerleitung und das Lagerpersonal geführt wurde, Folgendes:

„Dieser Wachhabende behandelte mich als Faulpelz und schlug mich fortgesetzt. Er versprach mir, ein Loch zu graben, um mich hinein zu werfen. Er machte sich in gleicher Weise durch seinen besonderen Hass auf die Franzosen bemerkbar: Ich bin jeden Tag wild geschlagen worden, sei es mit Faustschlägen, sei es mit Stockhieben, sei es in den Schnee gerollt und mit den Füßen getreten.“ (Breit 2017: 87)

Dies war kein Einzelfall sondern Alltag. Demütigungen, Schläge oder die Bunkerstrafe. Der „Bunker“ war eine kleine, ungeheizte fensterlose Arrestzelle mit Betonboden. Sie war so klein, dass man darin nur stehen oder sitzen konnte. In den knapp vier Jahren, von 1941 bis 1945, wurden ca. 8.500 Menschen im Lager Reichenau „inhaftiert, gefoltert und zur Zwangsarbeit verpflichtet, 114 Menschen wurden dort nachweislich ermordet.“ (orf.at)

Die Geschichte von sieben Ermordeten im AEL Reichenau

Am Tag des besagten ersten Bombenangriffs auf Innsbruck, am 15. Dezember 1943, ordnete der Gestapo Leiter Werner Hilliges in Absprach mit dem Gauleiter Stellvertreter und dem Polizeipräsidenten an, dass für die Rettungs- und Aufräumarbeiten hunderte „Arbeitserziehungshäftlinge aus der Reichenau“ (Schreiber 2002) eingesetzt werden. Die Bergungsarbeiten erfolgten wie alle Arbeitseinsätze unter Aufsicht von Wachmannschaften des Lagers. Dies waren meist SS-Reservisten, Gendarmen oder Schutzpolizisten. (vgl. ebd.).

Josef Sepp, Wachmann für die Außenarbeitskommandos des Lagers Reichenau, war an diesem Tag mit einigen Häftlingen des Lagers in Pradl, beim Laurinkino in der Gumppstraße, im Einsatz. Sie sollten dort ein Wasserreservoir für Luftschutzzwecke errichten. Während des Einsatzes kam es zum Bombenangriff. Die Truppe ging in einer Baracke in Deckung und erhielt anschließend den Auftrag, bei einem 15 Meter entfernten bombenbeschädigten Haus Aufräumungs- und Bergungsarbeiten durchzuführen. Dort angekommen aßen die völlig ausgehungerten Männer, so schnell und heimlich sie konnten, Brot, Käse und Marmelade. Bis der Wachmann sie überraschte. Er befahl ihnen die Lebensmittel wieder hinzulegen und meldete den Vorfall am Abend im Arbeitserziehungslager. Die sieben Lagerinsassen mussten anschließend im Hof des Lagers Aufstellung nehmen und wurden durchsucht. Ein Glas Marmelade wurde in der Tasche einer Häftlingsuniform gefunden. Die sieben Männer wurden daraufhin abgeführt, misshandelt und verhört.

Gestapo-Chef Hilliges leitete den Sachverhalt an das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) weiter. SS-Obergruppenführer und oberster Leiter der Gestapo Ernst Kaltenbrunner gab den Befehl, die sieben Häftling zu erhängen. Dem wurde prompt Folge geleistet.

Wachmann Sepp Josef wird nach dem Krieg im Prozess folgendes zu Protokoll geben:

„Wenn mir vorgehalten wird, dass die Wegnahme von einem Wecken Brot, einem Stück Käse und 2 bis 3 Marmeladegläser durch einige ausgehungerte Häftlinge noch nicht die Hinrichtung aller sieben Häftlinge rechtfertigen kann, und dass ich mich durch die Anzeige dieser Häftlinge selbst mitverantwortlich gemacht habe für den Tod dieser sieben Häftlinge, so gebe ich an, dass ich zur Anzeigeerstattung auch als Wachorgan verpflichtet gewesen bin.“ (Breit 2017:133)

Und was am nächsten Tag in der Zeitung stand

Die Innsbrucker Nachrichten berichten am 17.12. 1943 auf der Seite 3 in propagandistischer Form über die Ermordung der sieben Lagerhäftlinge. Unter der Überschrift Plündern kostet das Leben ist Folgendes zu lesen:

„Wie die Geheime Staatspolizei mitteilt, wurden nach dem Terrorangriff auf Innsbruck am Mittwoch auch ausländische Arbeitskräfte zum Aufräumen und Bergen herangezogen. Trotzdem diesen Ausländern ausdrücklich bekanntgegeben worden war, dass jede Plünderung Todesstrafe nach sich ziehen werde, wurden sieben fremdländische Arbeiter auf frischer Tat beim Plündern betroffen. Sie haben sich u.a. Lebensmittel und Bekleidungsgegenstände angeeignet. Die Plünderer wurden am 16. Dezember 1943 zum Tode verurteilt; die Strafe wurde noch am gleichen Tage durch Erhängen vollstreckt.“

Von den sieben ermordeten Häftlingen, Cyrill Schmutz, Silvio Orsinger, Juri Filipowitsch, Peter Wetrow, Leoni Silvam, Giusep Di Patena und Iwan Semanatschenko findet sich heute nur mehr ein Grabstein am Militärfriedhof in Innsbruck.

Literatur und Quellen

Breit, Johannes (2017): Das Gestapo-Lager Innsbruck-Reichenau. Innsbruck: Verlagsanstalt Tyrolia

Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstand (1984): Widerstand und Verfolgung in Tirol 1934-1945. Eine Dokumentation, Band 1, Wien: Österreichischer Bundesverlag

Schreiber, Horst (2002): Innsbruck im Bombenkrieg, in: Konrad Arnold (Hrsg.), Luftschutzstollen aus dem Zweiten Weltkrieg. Das Beispiel Innsbruck. Von der Geschichte zur rechtlichen und technischen Problemlösung in der Gegenwart (Veröffentlichungen des Innsbrucker Stadtarchivs, N.F. 27), Innsbruck, sowie online: https://www.horstschreiber.at/texte/innsbruck-im-bombenkrieg/

Schreiber, Horst (2000): Das „Arbeitserziehungslager Reichenau“, in: Gabriele Rath/Andrea Sommerauer/Martha Verdorfer (Hrsg.), Bozen – Innsbruck. Zeitgeschichtliche Rundgänge, Bozen,S. 143-147. erinnern.at: Das Arbeitserziehnungslager Reichenau, https://www.erinnern.at/media/dbee351b65944a3c41f202ef39244f8f/das-arbeitserziehungslager-reichenau.doc/view (aufgerufen 8.3.2024)

orf.at: Reste von NS-Lager Reichenau freigelegt, 25.10.2023, https://tirol.orf.at/stories/3229610/ (aufgerufen 22.3.2024)

Bildmaterial: ©Stadtarchiv Innsbruck
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